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Was ist Physiognomik?
Johann Caspar Lavater definierte Physiognomik als „die Fertigkeit durch das Aeußerliche eines Menschen sein Inneres zu erkennen“. Diese Erklärung lässt viel Spielraum für Interpretationen. Im Allgemeinen versteht man unter Physiognomik den Rückschluss von Eigenschaften der äußeren Erscheinung eines Menschen auf dessen Charakter. Diese können die Mimik, die Gesichtszüge, das Verhalten oder sogar die Bekleidung umfassen. Die Tradition des physiognomischen Schrifttums reicht bis in die Antike zurück. Daneben entstanden im 16. und 17. Jahrhundert auch verschiedene Bildgattungen, die mit der Physiognomik in Verbindung gebracht werden können. Die Lavatersammlung besitzt zahlreiche Beispiele solcher Darstellungen, von denen im Folgenden einige vorgestellt werden.
Mensch-Tier-Vergleiche
Seit den Anfängen der Physiognomik spielten angebliche Ähnlichkeiten des Aussehens und des Charakters zwischen einzelnen Menschen und Tieren eine Rolle. Solche Vergleiche wurden bereits in der Schrift „Physiognomica“ angestellt, die ein Schüler des Aristoteles verfasst hatte. Besonders populär wurde die Gegenüberstellung von Menschen und Tieren durch das Werk “De humana Physiognomia libri IV” (“4 Bücher über die Physiognomik”), das der neapolitanische Arzt Giovanni Battista della Porta (1535–1615) 1586 veröffentlichte. Dieses Buch zeichnet sich dadurch aus, dass es im Gegensatz zu älteren Werken zur Physiognomik reich bebildert ist. Einige von Della Portas Illustrationen ließ Lavater kopieren, um sie im vierten Band seiner „Physiognomischen Fragmente“ abzubilden.
- Künstlerkreis Lavater: Mensch und Schaf nach Della Porta, um 1774-77, Pinselzeichnung, LAV 365/7179
- Künstlerkreis Lavater: Mensch und Hund nach Della Porta, um 1774-77, Pinselzeichnung und Aquarell, LAV 366/7195
Karikaturen
Die Karikatur als eigenständige Bildgattung entstand zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Ihr wichtigstes Merkmal besteht darin, dass sie Besonderheiten der Gesichtszüge individueller Menschen in stark übertriebener Weise wiedergibt. Oft hat man dabei den Eindruck, dass solche Merkmale auch die Charakterzüge des Dargestellten zum Ausdruck bringen. Karikaturen waren deshalb für Physiognom*innen von Interesse, da sie die angebliche Übereinstimmung von Aussehen und Charakter zu belegen schienen. Die Lavatersammlung enthält zahlreiche Karikaturen, darunter auch eine Kopie nach einer Zeichnung des römischen Barockmalers Carlo Maratta (1625–1713). Sie zeigt die Profilköpfe eines Papstes und von sechs Kardinälen in gleichmäßiger Reihung. Lavater ließ dazu sieben Umrisslinienzeichnungen anfertigen, die die Stufen der Verwandlung der einzelnen Köpfe der Karikatur in neutrale Profilgesichter zeigen.
- Künstlerkreis Lavater: Tableau mit 7 Köpfen - Papst Clemens IX. und sechs Kardinäle nach Carlo Maratta, 1770-1799, Aquarell und Deckfarbenmalerei, LAV 422/11276
Mimik als Ausdruck der Emotionen
Die Physiognomik beschäftigte sich nicht nur mit dauerhaften Charakterzügen, sondern auch mit vorübergehenden Gefühlszuständen und ihren äußeren Anzeichen. Von besonderer Bedeutung für das Studium der Mimik, also der Bewegungen der Gesichtsmuskulatur, war Charles Le Brun (1619–1690), der Hofmaler Ludwigs XIV. Dieser hielt im Jahr 1668 vor der königlichen Akademie der Malerei und Skulptur in Paris eine Vorlesung zu den Ausdrucksformen der Leidenschaften der Seele. Sie wurde im Jahr 1698 erstmals gedruckt und übte mit ihren zahlreichen Neuauflagen und Übersetzungen großen Einfluss aus. Denn Le Brun lieferte konkrete anschauliche Vorbilder: Die gedruckten Versionen seines Traktates sind illustriert mit Gesichtern, in denen der Ausdruck von Emotionen in der Gesichtsmuskulatur – oft auf schematische Weise – wiedergegeben ist. Lavater besaß die Ausgabe von Jean Audran aus dem Jahr 1727, deren Abbildungen er mehrfach kopieren ließ.
- Jean Audran nach Charles Le Brun: "die Verachtung" ("le Mépris"), 1727, Kupferstich, LAV 140/16804
- Jean Audran nach Charles Le Brun: "die Verachtung" ("le Mépris"), 1727, Kupferstich, LAV 140/16804
- Künstlerkreis Lavater: "Schrecken mit Verachtung", um 1780/90, Federzeichnung, LAV 33/1795
- Künstlerkreis Lavater: "Schrecken mit Verachtung", um 1780/90, Federzeichnung, LAV 33/1795
- Jean Audran nach Charles Le Brun: "die Aufmerksamkeit" ("l'Attention"), 1727, Kupferstich, LAV 140/16805
- Jean Audran nach Charles Le Brun: "die Aufmerksamkeit" ("l'Attention"), 1727, Kupferstich, LAV 140/16805
- Künstlerkreis Lavater: "furchtsam theilnehmende Aufmerksamkeit eines Kühnen", um 1780/90, Federzeichnung, LAV 20/1248
- Künstlerkreis Lavater: "furchtsam theilnehmende Aufmerksamkeit eines Kühnen", um 1780/90, Federzeichnung, LAV 20/1248
- Aristoteles: Physiognomica. Übersetzt und kommentiert von Sabine Vogt. Berlin 1999 (Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung 18,6).
- Campe, Rüdiger / Schneider, Manfred (Hg.): Geschichten der Physiognomik. Bild, Text, Wissen. Freiburg im Breisgau 1996.
- Cottegnies, Line: Codifying the Passions in the Classical Age: a few reflections on Charles Le Brun’s scheme and its influence in France and in England. Etudes Epistémé 2002, 1. https://journals.openedition.org/episteme/8451
- Fuchs, Eduard: Die Karikatur der europäischen Völker. Erster Teil: Vom Altertum bis zum Jahre 1848. 4. Aufl. München 1921.
- Langenmeyer, Gerhard et. al. (Hg.): Bild als Waffe. Mittel und Motive der Karikatur in fünf Jahrhunderten. München 1984.
- Gombrich; Hans Ernst: On Physiognomic Perception. In: Meditations on a Hobby Horse and other Essays on the Theory of Art. London 1963, S. 45–55.
- Hofmann, Werner: Die Karikatur von Leonardo bis Picasso. Wien 1956.
- Jöhnk, Carsten: Die Bedeutung der Physiognomik für die Karikatur um 1800. Studien zur lesbaren Physiognomie bei James Gillray, Thomas Rowlandson und George Cruikshank. Göttingen 1998.
- Kirchner, Thomas: Physiognomie als Zeichen. Die Rezeption von Charles Le Bruns Mensch-Tier-Vergleichen um 1800. In: Gersmann, Gudrun / Kohle, Hubertus (Hg.): Frankreich 1800. Gesellschaft, Kultur, Mentalitäten. Stuttgart 1990, S. 34–48.
- Montagu, Jennifer: The Expression of the Passions. The Origins and Influence of Charles Le Brun’s Conférence sur l’expression générale et particulière. New Haven/London 1994.
- Salzwedel, Johannes: Das Gesicht der Welt. Physiognomisches Denken in der Goethezeit. München 1993.
- Schmölders, Claudia: Das Vorurteil im Leibe. Eine Einführung in die Physiognomik. Berlin 1995.
- Schneider; Hilke: Physiognomische Gesichtstypen in Giambattista Della Portas Werk „De Humana Physiognomia“ analysiert mit modernen computergestützten kephalometrischen Verfahren. Diss. München 2002. https://mediatum.ub.tum.de/602317
- Van Delft, Louis: Physiognomonie et peinture du caractère: G. Della Porta, Le Brun, La Rochefoucauld. L’esprit Créateur 25,1 (1985), S. 43–52.