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Physiognomische Darstellungsformen
Lavater gab in seinen Briefen an Daniel Chodowiecki und an andere Künstler*innen immer wieder genaue Anweisungen, wie er die von ihm bestellten Bildgegenstände dargestellt wissen wollte. Er bevorzugte dabei eine Reihe ganz bestimmter Darstellungsweisen und -techniken, die charakteristisch sind für die meisten Blätter, die zwecks physiognomischer Studien für ihn angefertigt wurden. Grundlegend dafür waren Lavaters Ansichten bezüglich der Aussagekraft bestimmter Teile des Gesichtes sowie seine Bevorzugung von Linien und der festen Strukturen des Schädels. Andererseits verfolgte er mit seinen visuellen Strategien auch das Ziel, den Leser*innen seiner Werke seine physiognomischen Anschauungen in besonders überzeugender Weise anschaulich zu vermitteln. In diesem Sinn bedingte der Kontext, in dem ein Bild zu Demonstrationszwecken verwendet wurde, manchmal die Form seiner Darstellung.
Umrisslinienzeichnungen
Mit Abstand die meisten der von Lavater selbst in Auftrag gegebenen bildlichen Darstellungen sind als sogenannte Umrisslinienzeichnungen ausgeführt. Anders als der Name nahelegen würde, bestehen diese jedoch nicht allein aus Umrissen. Eine Binnenzeichnung ist durchaus vorhanden, doch beschränkt sich diese auf Linien. Was den Umrisslinienzeichnungen fehlt, sind Schattierungen.
- Unbekannter Künstler: Bildnis eines Unbekannten, Kreidezeichnung, LAV 187/9883
- Unbekannter Künstler: Bildnis eines Unbekannten, Kreidezeichnung, LAV 187/9883
- Künstlerkreis Lavater: Umrisslinienzeichnung nach einem Bildnis eines Unbekannten, Federzeichnung, LAV 129/16408
- Künstlerkreis Lavater: Umrisslinienzeichnung nach einem Bildnis eines Unbekannten, Federzeichnung, LAV 129/16408
Lavater übernahm die Technik der Umrisslinienzeichnung aus Musterbüchern, von denen mehrere in seiner Sammlung nachweisbar sind. Wie es in solchen Vorlagenbüchern üblich war, ließ er Figuren, Köpfe und andere Körperteile aus Kunstwerken kopieren und teilweise auf Tableaus zusammenstellen. Auf diese Weise entstanden rund 5.000 Umrisslinienzeichnungen, die noch heute einen der größten Teilbestände der Lavatersammlung ausmachen.
- Francois de Poilly: Männliche Darstellung nach Poussin, sowohl schattiert als auch in Umrisslinien wiedergegeben, 1665-1693, Kupferstich, LAV 130/16456
- Francois de Poilly: Männliche Darstellung nach Poussin, sowohl schattiert als auch in Umrisslinien wiedergegeben, 1665-1693, Kupferstich, LAV 130/16456
Lavater übernahm die Technik der Umrisslinienzeichnung aus Musterbüchern, von denen mehrere in seiner Sammlung nachweisbar sind. Wie es in solchen Vorlagenbüchern üblich war, ließ er Figuren, Köpfe und andere Körperteile aus Kunstwerken kopieren und teilweise auf Tableaus zusammenstellen. Auf diese Weise entstanden rund 5.000 Umrisslinienzeichnungen, die noch heute einen der größten Teilbestände der Lavatersammlung ausmachen.
- Künstlerkreis Lavater: Godfrey Kneller, 1774-77, Federzeichnung, LAV 319/4203
- Künstlerkreis Lavater: Godfrey Kneller, 1774-77, Federzeichnung, LAV 319/4203
- Künstlerkreis Lavater: Madonna nach Il Sassoferato, 1770-1797, Federzeichnung, LAV 132/16537
- Künstlerkreis Lavater: Madonna nach Il Sassoferato, 1770-1797, Federzeichnung, LAV 132/16537
Silhouetten
In seinen „Physiognomischen Fragmenten“ bedient sich Lavater im großen Stil einer neuen Technik, mittels derer die Profillinie eines Gesichtes mit relativer Genauigkeit auf die Bildebene projiziert werden konnte: des Schattenrisses, der auch unter der Bezeichnung „Silhouette“ bekannt ist. Sie leitet sich vom französischen Finanzminister Etienne de Silhouette (1709–1767) ab. Diesem wurde nachgesagt, dass er das Sammeln von billigen Schattenrissen dem Ankauf teurer Porträtgrafiken vorzog. In Frankreich entstanden Silhouetten ab den späten 1750er Jahren. In Deutschland trug Lavater, der in seinem physiognomischen Hauptwerk hunderte von Schattenrissen publizierte, sehr zur Verbreitung und Popularisierung dieses Bildmediums bei.
- Künstlerkreis Lavater: Johann Caspar Lavater, 1783, Radierung, LAV 110/2727
- Künstlerkreis Lavater: Tableau mit vier Silhouetten von Gottlieb Friedrich Klopstock, Johann André (?), Friedrich A. Klockenbring und Moses Mendelssohn, 1783, Radierung, LAV 110/2734
Der Silhouettierstuhl
Eine Vorrichtung, die der Herstellung von Silhouetten dient, ist der Silhouettierstuhl. Dieser besitzt auf einer Seite über der Armlehne einen Holzrahmen, in den ein geöltes Papier eingespannt ist, das als Projektionsfläche für den Schattenriss dient. Die zeichnende Person sitzt hinter dieser Vorrichtung und wirft somit keinen Schatten auf das Papier. Auf einer senkrechten Leiste ist ein kleines Kissen angebracht, an das die zu zeichnende Person ihren Kopf anlehnt, um ihn möglichst still zu halten.
Tableaus: Kontraste und feine Unterschiede
„Ich werde daher in diesem Werke alle Gelegenheit ergreifen, meine Leser auf die kleinsten, kaum bemerkbaren Unterschiede gewisser Gesichter und Gesichtszüge, die sich beym ersten flüchtigen Anblick ähnlich scheinen, aufmerksam zu machen.“ (Johann Caspar Lavater)
Viele der Tafeln, mit denen die „Physiognomischen Fragmente“ illustriert sind, zeigen mehrere Reihen gleichartiger Darstellungen. Auch die Sammlung enthält solche Tableaus, die als Umrisslinienzeichnungen ausgeführt sind. Oft nutzte Lavater die Zusammenstellungen, um in seinen Kommentaren Vergleiche – etwa zwischen gleichen Gesichtsteilen verschiedener Köpfe – anzustellen. Die Stichhaltigkeit seiner Behauptungen wird dabei manchmal durch besonders kontrastierende Darstellungen anschaulich untermauert. Daneben finden sich aber auch zahlreiche Tableaus mit sehr ähnlichen Köpfen, die in Details geringfügige Änderungen aufweisen. Lavater dienten diese als Demonstrationsobjekte, um den „physiognomischen Beobachtungsgeist“ zu schulen.
- Künstlerkreis Lavater: Tableau mit vier Variationen eines männlichen Kopfes, 1770-1797, Federzeichnung, LAV 69/19711
- Künstlerkreis Lavater: Tableau mit vier Variationen eines männlichen Kopfes, 1770-1797, Federzeichnung, LAV 69/19711
- Künstlerkreis Lavater: Zwei männliche Köpfe, 1770-1797, Federzeichnung, LAV 71/19772
- Künstlerkreis Lavater: Zwei männliche Köpfe, 1770-1797, Federzeichnung, LAV 71/19772
Stufen: Metamorphosen zwischen Extremen
Eine spezielle Form der Zusammenstellung mehrerer, inhaltlich und formal zusammenhängender Darstellungen sind die sogenannten Stufen. Mit dem Ausdruck „Stufe“ bezeichnete Lavater die Metamorphose eines Kopfes von einem bestimmten Extrem zu seinem Gegenteil. Häufige Gegensatzpaare sind: Tier-Mensch, Schönheit-Hässlichkeit, Tugend-Laster, Dummheit-Verstand/Vernunft, Stärke-Schwäche. Wegen der Häufigkeit, mit der diese oder ähnliche Begriffe auch sonst in Lavaters Kommentaren vorkommen, kann man vermuten, dass es sich um Kategorien handelt, die grundlegend für sein physiognomisches Weltbild sind.
Der einzige bekannte Text, in dem Lavater Stufen abbildet und erläutert, ist ein im vierten Band der französischen Ausgabe der „Physiognomischen Fragmente“ als Anhang publiziertes Kapitel „über die Linien des Animalischen“ („Sur les Lignes d’ Animalité“). Wegen des Ausbruchs der Französischen Revolution 1789 erschien dieser Band erst nach Lavaters Tod im Jahr 1803.
- Künstlerkreis Lavater: Stufe vom Frosch zum Apoll, 1790-1800, Federzeichnung, LAV 59/1680
- Künstlerkreis Lavater: Tableau mit 12 Stufen vom Löwen zum Apoll, 1790-1797, Federzeichnung, LAV 69/19682
Künstlerkreis Lavater: 18 Stufen von groteskem Kopf mit Eselsohren zu menschlichem Kopf, um 1790/1800, Federzeichnungen, LAV 316
Abstrakte Linien
Lavater interessierte sich bei Gesichtsdarstellungen hauptsächlich für die die Formen umschließenden Linien, die er als die primären Ausdrucksträger des Charakters betrachtete. Aufgrund dieser Überzeugung war er auf der Suche nach einer elementaren Typologie der Linien. Im zweiten Band der „Physiognomischen Fragmente“ symbolisiert die Titelvignette „drey Hauptklassen von Menschen und Menschenwerken“ durch drei Linien.
- Johann Rudolf Schellenberg: Drei Hauptklassen der Menschheit, 1776, Feder- und Pinselzeichnung, LAV 692/13401
- Johann Rudolf Schellenberg: Drei Hauptklassen der Menschheit, 1776, Feder- und Pinselzeichnung, LAV 692/13401
Im vierten Band der „Physiognomischen Fragmente“ versucht Lavater, alle nur denkbaren Profile eines Gesichtes durch „charakteristische Linien“ zu klassifizieren, die durch unterschiedliche Kombinationen der beiden Gegensatzpaare „gerade-krumm“ und „senkrecht-schief“ entstehen. Daraus entwickelt er ein „Alphabet der Stirnen“. Diese zeichnerischen Versuche mit Profillinien werden mit der Zeit immer abstrakter. Im Jahr 1789 verfasste Lavater ein Manuskript „Physiognomische Regeln“, in dem er in hundert Abschnitten einzelne Gesichtsteile sowie negative Eigenschaften und Charaktere behandelt. Die Zeichnungen, die diese „Regeln“ illustrieren, sind teilweise so reduziert, dass ihr gegenständlicher Charakter nicht mehr erkennbar ist.
Fünf Blätter aus dem Manuskript "Physiognomische Regeln" von Johann Caspar Lavater, 1789, LAV 753
- Bindman: Frog to Apollo: a French Print after Lavater and Pre-Darvinian Theories of Evolution. Print Quaterly 28, 4 (2011), S. 392-395.
- Kippenberg, Anton: Die Technik der Silhouette. Jahrbuch der Sammlung Kippenberg 1 (1921), S. 132-177.
- Lovejoy, Arthur O.: The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea. Cambridge, Mass. 1953.
- Ohage, August: Über Silhouetten, die Fotos der Goethezeit. In: Mittler, Elmar (Hg.): "Göthe ist schon mehrere Tage hier, warum weiß Gott und Göthe". Vorträge zur Ausstellung "Der gute Kopf leuchtet überall hervor" - Goethe, Göttingen und die Wissenschaft. Göttingen 2000, S. 55-88.
- Rosenberg, Raphael: Johann Caspar Lavater: die Revolution der Physiognomie aus dem Geist der ästhetischen Linientheorie. In: Haldemann, Matthias (Hg.): Linea - vom Umriss zur Aktion. Ostfildern 2010, S. 72-85.
- Schögl, Uwe: Vom Frosch zum Dichter-Apoll. In: Mraz, Gerda, Schögl, Uwe (Hg.): Das Kunstkabinett des Johan Caspar Lavater. Wien 1999, S. 164-171.
- Schögl, Uwe: Ikonische Kompositionalität: Gedanken zu Johann Caspar Lavaters Bilddenken. Librarium, Zeitschrift der Schweizer Bibliophilen-Gesellschaft 55 (2012), S. 108-124.
- Swoboda, Gudrun: Stuffen in Lavaters "Physionomischen Kabinett". Gesichtslinien zwischen morphologischem Experiment und metrischer Bestimmung. Biblos 50, 1 (2001), S. 143-160.
- Swoboda, Grudrun: Lavaters Linienspiele. Techniken der Illustration und Verfahren graphischer Bildbearbeitung in einer physiognomischen Studiensammlung des 18. Jahrhunderts. Disseratation. Wien 2002.
- Swoboda, Gudrun: Lavater sammelt Linien: zu seinem Versuch einer universellen Klassifikation linearer Ausdrucksformen im Anschluss an Dürer und Hogarth. In: Schubiger, Benno (Hg.): Sammeln und Sammlungen im 18. Jahrhundert in der Schweiz. Akten des Kolloquiums Basel, 16.-18. Oktober 2003. Genf 2007, S. 315-339.