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Problematische Inhalte
Physiognomik beurteilt Menschen aufgrund von Äußerlichkeiten und gibt sich mitunter als Wissenschaft aus. Damit schafft sie gute Voraussetzungen für ethisch bedenkliche Inhalte, für die Lavater zahlreiche Beispiele bietet. Seine Kommentare sind hauptsächlich Bewertungen der Dargestellten. Sie beruhen auf seinen subjektiven Eindrücken und auf vorgefassten Meinungen und behandeln die Dargestellten oft auf diskriminierende und abschätzige Weise. Um der Kritik an seiner Vorgehensweise und moralischen Bedenken den Wind aus den Segeln zu nehmen, betonte Lavater stets die Redlichkeit seiner Motive: Wie im Titel seines Werkes bereits festgehalten ist, wollte er Physiognomik „zur Beförderung der Menschenliebe“ betreiben. Angesichts der polemischen und polarisierenden Urteile in seinen physiognomischen Kommentaren war dies ein Lippenbekenntnis.
Rassismus
Lavaters Behauptungen und Methoden im Rahmen seiner Beschäftigung mit Physiognomik sind in mancher Hinsicht Vorläufer zu den Rassentheorien des 19. und 20. Jahrhunderts. Grundsätzlich folgt er der eurozentrischen Sichtweise seiner Zeit, wenn er Europäer*innen als die am höchsten stehenden „Rassen“ und die Einwohner*innen der übrigen Kontinente in verschiedenen Abstufungen als minderwertiger charakterisiert. Besonders menschenverachtend und rassistisch war Lavaters Einstellung gegenüber People of Colour, was in den privaten Kommentaren zu Grafiken seiner Sammlung viel deutlicher hervortritt als in den öffentlichen Äußerungen in seinen physiognomischen Schriften. Die geistige Minderwertigkeit sah Lavater in diesen Fällen durch die Form des Schädels angezeigt, aber auch durch in dieser Beziehung vollkommen belanglose Merkmale wie Lippen und Haare.
- Künstlerkreis Lavater: Silhouette eines männlichen Kopfes, 1778, Radierung, LAV 838/12842
- Künstlerkreis Lavater: Männlicher Kopf, 1770-1787, Federzeichnung, LAV 68/19664
Antisemitismus
Lavaters Einstellung gegenüber Angehörigen des Judentums war geprägt von typischen antisemitischen Stereotypen (Geiz, Schlauheit, Habichtsnase), aber auch von religiösen Motiven. Mit dem jüdischen Philosophen Moses Mendelsohn führte er in den Jahren 1769 und 1770 eine literarische Kontroverse über die Beweisgründe für das Christentum. Lavater schätzte Mendelsohn persönlich, wovon seine Kommentare zu dessen Bildnissen zeugen. Gleichwohl wollte er diesen zum Übertritt zum Christentum bewegen. Zwei andere Juden konnte er 1771 tatsächlich in Zürich bekehren und taufen. Vielleicht ist einer davon mit dem Profilbildnis eines jungen Mannes zu identifizieren, der als „Jude; Proselyt“ bezeichnet wird. Der Kommentar zu diesem Porträt belegt jedoch einmal mehr Lavaters abschätzige, vorurteilsbeladene Einstellung gegenüber Juden und Jüdinnen.
- Künstlerkreis Lavater: Silhouette von Moses Mendelssohn, 1783, Radierung, LAV 838/12840
- Künstlerkreis Lavater: Silhouette von Moses Mendelssohn, 1783, Radierung, LAV 838/12840
- Künstlerkreis Lavater: Bildnis eines Unbekannten, 1770-1788, Aquarell, LAV 687/11801
- Künstlerkreis Lavater: Bildnis eines Unbekannten, 1770-1788, Aquarell, LAV 687/11801
Die Vermessung des Schädels
Lavaters Ziel war nicht, die Mimik, also den vorübergehenden Ausdruck von Gefühlen in den Bewegungen der Gesichtsmuskulatur, zu erforschen. Er suchte nach festen, unveränderbaren Merkmalen, die den Charakter äußerlich anzeigten, und fand diese in der Krümmung und im Neigungswinkel der Umrisslinien des Kopfes. In letzter Konsequenz bedeutete dies, dass die Form des Schädels der eigentliche Forschungsgegenstand der Physiognomik für Lavater war. Er erfand dazu Apparate zur Vermessung des Schädels und Methoden, mit deren Hilfe man die „Linien“ des Kopfes auf die Fläche des Papiers projizieren konnte. Wie es später in den rassistischen Lehren des 19. und 20. Jahrhunderts üblich war, wollte Lavater in bestimmten Merkmalen der Kopfform „Maßstäbe“ für die Bewertung von Menschen unterschiedlicher Herkunft erkennen.
Beleidigende Kommentare
Lavater war kein Mensch, der sich ein Blatt vor den Mund nahm. Dementsprechend häufig sind beleidigende und abfällige Äußerungen in seinen physiognomischen Kommentaren. Zum Problem wurde dies, wenn sich Personen durch ihre Beurteilung in den „Physiognomischen Fragmenten“ persönlich angegriffen fühlten. Daniel Chodowiecki, der Lavater zahlreiche Porträtzeichnungen von Berliner*innen geschickt hatte, bat deshalb um Zurückhaltung bei der Kommentierung. Lavater behalf sich schließlich damit, dass er die meisten zeitgenössischen Porträts in den „Physiognomischen Fragmenten“ in anonymisierter Form veröffentlichte.
- Künstlerkreis Lavater: Friedrich Baumann, 1776, Bleistift- und Pinselzeichnung, LAV 629/5987
- Künstlerkreis Lavater: Friedrich Baumann, 1776, Bleistift- und Pinselzeichnung, LAV 629/5987
„Ein sehr kränkelnder, schwindsüchtiger, cholerischmelancholischer, einfältiger Schuster – (Im Vorbeygehn zu sagen: Fast keine Art Leute sind so schlecht gebildet, als die Schuster; und fast keine Art Leute, im Durchschnitte genommen, so mißgestaltet wie diese – Auch ist nicht weniger anmerkenswerth, daß unter 80 Schusterkindern in Zürich nicht mehr als 6 oder 7 Knaben sind.“ (Johann Caspar Lavater)
Diese ausfälligen Bemerkungen über den Stand der Schuster*innen verfasste Lavater anlässlich der Veröffentlichung der nebenstehenden Karikatur von Chodowiecki im zweiten Band der „Physiognomischen Fragmente“. Die Schuster*innen Zürichs fühlten sich dadurch beleidigt und verlangten von ihm eine „befriedigende Ehrenrettung“.
- Bindman, David: Ape to Apollo. Aesthetics and the idea of race in the 18th century. London 2002.
- Gray, Richard T.: Physiognomik im Spannungsfeld zwischen Humanismus und Rassismus: Johann Caspar Lavater und Carl Gustav Carus. Archiv für Kulturgeschichte 81,2 (1999), S. 313–337.
- Gray, Richar T.: About face. German physiognomic thought from Lavater to Ausschwitz. Detroit 2004.
- Lachs, Daniela: Lavaters Frauenbild - Lavaters Frauenbilder. In: Mraz, Gerda, Schögl, Uwe (Hg.): Das Kunstkabinett des Johan Caspar Lavater. Wien 1999, S. 152-161.
- Lachs, Daniela: Nationalphysiognomien. In: Mraz, Gerda, Schögl, Uwe (Hg.): Das Kunstkabinett des Johan Caspar Lavater. Wien 1999, S. 182-189.